Lesetipp: Putins Demokratur

demokraturIch habe selten so ein Buch der klaren Worte gelesen. Gerade im Moment, in dem sich diejenigen lautstark Gehör verschaffen, die es anscheinend für normal halten, dass ein waffenstarrendes und doch zurückgebliebenes Land sich das Recht herausnimmt, seine Nachbarn zu überfallen und Teile des Nachbarlandes zu besetzen, finde ich solche Bücher wichtig.

Das ist kein Buch gegen Russland. Es ist ein Buch gegen die mafiösen Strukturen, die Russland im Griff haben und von alter imperialer Größe träumen – also ein Buch für Russland. Russland, dieses wundervolle Land, dessen Bewohner (und Nachbarn) etwas Besseres verdient haben als sich im Interesse einer kleinen machtbesessenen Elite international zu isolieren, ein Land, das bessere Partner als Nordkorea oder Iran haben könnte.

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Boris Reitschuster

Boris Reitschuster weiß, wovon er schreibt. Er hat 15 Jahre in Russland gelebt. Es fällt schon auf, dass komischerweise diejenigen, die mangels Sprachkenntnisse die unsägliche Staatspropaganda in russischen Staatsmedien gar nicht im Original verfolgen können, sich für besser informiert halten. Quelle ihres Wissens sind dann die deutschsprachigen Agitpropkanäle des Kremls.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentliche ich das Vorwort zu diesem Buch:

„Wer sich in Moskau zurückziehen will, muss an einen belebten Ort gehen. Zumindest als kritischer Journalist, wenn die eigene Wohnung und das Büro verwanzt sind. So fand das vertrauliche Treffen mit einem der wichtigsten Männer in der deutschen Außenpolitik 2006 in der Lobby eines Moskauer Hotels statt.

Der Geräuschpegel erinnerte an ein Wirtshaus – was uns recht war, denn es erschwerte Lauschern ihr Geschäft. Der Besucher aus Berlin hatte gerade die erste Auflage dieses Buches gelesen. Er wollte mit mir persönlich darüber diskutieren, als er zu einer offiziellen Reise nach Moskau kam; abseits vom Besuchsprogramm, unter fast konspirativen Umständen.
Was im Buch stand, hatte ihn nicht losgelassen. Und doch – oder gerade deshalb – wollte er es nicht so recht glauben. Er sah mich skeptisch an: »Sie übertreiben doch stark! Ihre Prognose ist viel zu düster!«

Ich bat ihn, konkreter zu werden. Er blieb vage, und erst nach dem zweiten Bier sagte er den entscheidenden Satz: »Wenn man glaubt, was Sie schreiben, bekommt man ja Angst!«

Nicht nur der Außenpolitiker wollte die Probleme in Moskau nicht so recht wahrnehmen. Auch in der Bundestagsfraktion einer Partei, die Putins Russland kritisch gegenübersteht, wurde über dieses Buch diskutiert.
»Die Hälfte der Kollegen glaubt nicht, was da drin steht«, erzählte mir später ein Teilnehmer der Sitzung resigniert. »Sie wollen es einfach nicht glauben!«

Acht Jahre später, nach dem Krieg in Georgien und der Besetzung der Krim, hat sich leider herausgestellt, dass die Warnungen nicht überzogen waren. Im Gegenteil: Wäre ich 2006 bei der ersten Auflage weniger kritisch gewesen – ich müsste mir heute den Vorwurf der Blauäugigkeit gefallen lassen.

Von meinen deutschen Journalistenkollegen in Moskau kenne ich keinen, der Putins Potemkin’sche Fassade nicht durchschaut hätte; und selbst viele russische Kollegen geben diskret zu erkennen, was sie von der eigenen Propaganda halten. Umso positiver fällt hingegen das Urteil über Putin bei vielen deutschen Politikern und sogenannten Experten aus, die das Land größtenteils nur oberflächlich oder gar nicht kennen.
Nach Putins Einmarsch auf der Krim im März 2014 rieb ich mir verwundert die Augen: Überrascht hat mich nicht, dass Putin zu so einer Aggression bereit war. Wer sich intensiv mit ihm und seiner Politik auseinandergesetzt hatte, musste wissen, dass solch ein Schritt möglich ist.

Ich war entsetzt, wie stark Putins Lobby inzwischen ist und wie zahlreich seine Unterstützer mittlerweile in der öffentlichen Debatte sind. Dabei ist das kein Wunder, kann doch der Kreml-Chef finanziell aus dem Vollen schöpfen und als gelernter KGB-Offizier fachmännisch Meinungen manipulieren und Menschen irreführen.

Je frecher die Propaganda, je geringer ihr Wahrheitsgehalt, je öfter sie wiederholt wird, umso einfacher infiziert sie offenbar die Geister. Mit seiner Dreistigkeit überrumpelt er viele Nichtsahnende, die der Putin’schen Relativitätstheorie – »Kosovo = Krim« oder »Bolotnaja = Schanzenviertel« – auf den Leim gehen.

Er hat begriffen, dass Gesellschaften, die zur Selbstkritik neigen, hier besonders anfällig sind. Wie einst Lenin kann er auf eine Vielzahl »nützlicher (und sicher auch wohlmeinender) Idioten « im Westen bauen – ein Begriff, mit dem sich der Revolutionsführer einst über seine Unterstützer im Ausland lustig machte; die Kapitalisten, so Lenin, würden den Sowjets noch den Strick verkaufen, mit dem sie sie dann aufhängen.

Nach der Annexion der Krim fanden selbst die absurdesten Behauptungen auch im Westen reichen Widerhall und wurden bereitwillig geglaubt. Jahrzehnte Demokratie haben bei vielen die Wachsamkeit gegenüber Propaganda einschläfern lassen.

Wir misstrauen zwar generell Politikern sowie Journalisten, trauen ihnen viele Lügen zu und berichten ausführlich über jeden Missstand bei uns.

Aber gleichzeitig durchschauen wir es nicht, wenn die Lüge die Norm ist und Missstände die Regel sind. Dass jemand konsequent Recht bricht, Nachrichten und Sprache systematisch zur Manipulation nutzt und das Gegenteil von dem sagt, was er denkt und tut, können wir uns nicht vorstellen und deshalb auch nicht glauben.

Vielleicht wollen wir es auch nicht.

Dass da ein unberechenbarer Mann mit Hang zu Gewalt und Aggression am Atomknopf sitzt und seinen Chef-Propagandisten Dmitri Kisseljow im März 2014 im Fernsehen verkünden lässt, Russland könne die USA in Schutt und Asche legen, ist wohl für viele zu beängstigend, um es wahrhaben zu wollen.
Die Missstände in einem autoritären System wie in Putins Demokratur sind so fern von der Lebensrealität der Menschen in einem Rechtsstaat, dass sie ihre Tragweite offenbar nicht nachvollziehen können.
Das verdeutlichen die Sympathien aus dem Ausland, die weitaus brutaleren Herrschern entgegengebracht wurden – Stalin und Hitler.

Ich höre bei meinen Vorträgen in den alten Bundesländern regelmäßig:
»Das kann doch nicht stimmen, was Sie erzählen!«
Ganz anders dort, wo die Menschen ein totalitäres Regime am eigenen Leib erfahren haben.
Hier ist der Tenor: »Das kommt uns alles aus der DDR bekannt vor.«

Das Wegsehen ist gefährlich. Hätten wir uns nicht 14 Jahre lang etwas vorgemacht, sondern die nötigen Schlüsse gezogen, wäre die Lage heute nicht so bedrohlich. Dass wir jetzt so abhängig von russischem Gas und Öl sind, ist vor allem auf die Politik von Ex-Kanzler Gerhard Schröder zurückzuführen, einem Mann, der heute in den Diensten russischer Konzerne steht.

Aber es wäre falsch, das Problem auf den Altkanzler zu reduzieren.
Putin hat eine hohe An ziehungskraft quer durch die politischen Lager – von Alice Schwarzer bis hin zu Peter Gauweiler.

Haben wir es mit einem verdeckten Anti-Amerikanismus zu tun?

Punktet Putin bei Sozialismus-Nostalgikern, die nicht verstehen, dass er für einen Wildwest-Kapitalismus steht?

Ist sein Macho-Gehabe für viele imponierend?

Immer wieder ist die Klage zu hören, der Westen hätte Russland umzingelt. Das ist die Sichtweise Putins, der als KGB-Mann überall Verschwörungen wittert.

Die Realität ist, dass sich Russland mit den meisten Nachbarn überworfen hat.

Das russische Modell übt, im Gegensatz zum »American way of life«, auf keines der Nachbarländer Anziehungskraft aus. Dass sich diese Gesellschaften nach Westen wenden, ist also nicht die Schuld der USA oder der CIA – auch wenn es ihnen entgegenkommen mag –, sondern die Folge von Putins Politik.

Den Putin-Verteidigern möchte ich raten, einmal über einen Kurzbesuch hinaus eine längere Zeit in Putins Russland zu leben, am besten mit Verzicht auf ihre Privilegien durch den deutschen Pass.
Als normaler Russe, der jeden Tag der Willkür des Unrechtsstaats ausgesetzt ist.
Oder als Journalist.

Wer in Russland nicht schweigt und die Missstände öffentlich kritisiert, ja publiziert, muss mit Anfeindungen und Hass rechnen.

»Notorischer Lügner«, »Goebbels« und »Judensau« – das sind nur einige der Vergleiche und Beschimpfungen, die man zu hören bekommt, wenn man kritisch berichtet.
Wer Kritik an den Zuständen in Russland übt, wird schnell zum »Russophoben« abgestempelt, zum Russlandfeind.

Als ich in Russland mit den Recherchen für dieses Buch begann, hörte ich viele Warnungen. Ich solle den Mund nicht zu weit aufmachen und Tabuthemen brav ausklammern, rieten Freunde, Kollegen und Verwandte.
Nach der ersten Auflage bekam ich zu hören, ich habe mit diesem Buch mein Todesurteil unterschrieben.

Selbst von offiziellen Stellen kamen kaum verhüllte Drohungen – ich solle mir Gedanken um meine Sicherheit machen und es sei gefährlich, was ich »treibe«.

Als ich später einem Wissenschaftler, der in Berlin über die DDR forscht, von meinen Erlebnissen erzählte, sagte der mir: »Sie brauchen nicht weiterzuerzählen. Ich weiß, was als Nächstes kommt. Das, was Ihnen widerfährt, wurde bei der Stasi gelehrt, man nannte das Zersetzung.«

Nicht nur mir geht es so: Der russische Geheimdienst FSB erpresst westliche Politiker, auch deutsche Minister – nur wird darüber nicht berichtet.

Die »Einflussmaßnahmen« reichen von Bestechung bis hin zu massiven Drohungen: Einer der höchsten Entscheidungsträger Europas erzählte mir nach seiner Pensionierung, er sei mehrfach von russischer Seite bedroht worden, und nehme das sehr ernst seit dem Polonium-Mord an Alexander Litwinenko 2006 in London, wo der KGB bereits 1978 den bulgarischen Dissidenten Georgi Markow tötete.
Er bat mich ängstlich seinen Namen nicht zu nennen: »Ich habe meiner Familie versprochen, zu schweigen, damit ich sie nicht in Gefahr bringe. Die Drohungen waren sehr ernst.«

Ich habe die Mahnungen in den Wind geschlagen. Manchmal hadere ich mit dieser Entscheidung. Weil die Hetze Ausmaße annahm, die ich mir nicht ausmalen konnte.

So schlug eines der größten Nachrichtenmagazine in Russland vor, eine Prämie für den größten »Russland-Hasser« zu stiften und nach mir zu benennen; Leute wie mein Großvater könnten verantwortlich sein für den Überfall Hitlers auf die Sowjetunion.

Aber stärker als eine solche Hetze traf mich, dass meine Warnungen in Deutschland oft als Schwarzmalerei abgetan wurden. Offenbar sind die Geschäfte mit Russland so lukrativ und die Verflechtungen so eng, dass man nicht genauer hinschauen will.

Putin, dessen Großvater Koch bei Stalin war, greift auf die Methoden der 1930er Jahre zurück. Er lässt Gegner jeder Couleur als »Faschisten« verleumden – ein Wort, das in Russland aufgrund seiner blutigen Geschichte besonders tiefe Gefühle hervorruft.

Hier sei an Winston Churchill erinnert, der einst warnte, »die Faschisten der Zukunft werden sich Antifaschisten nennen«.

So sehr jeder historische Vergleich hinkt: Betrachtet man die Definition des klassischen Faschismus im Brockhaus, sind die Ähnlichkeiten zu Putins System schockierend.

Die Töne, die im russischen Fernsehen angeschlagen werden, sind immer unerträglicher.

Antiwestliche Hetze und staatlich geschürter Chauvinismus vergiften die Atmosphäre bis ins Private. Viele meiner langjährigen Freundschaften sind zerbrochen.

Ein Freund sagte mir: »Wenn ich die Nachrichten sehe, habe ich nur noch einen Wunsch – ein Gewehr in die Hand nehmen und in die Ukraine fahren! Wenn ich dann nachdenke, erschrecke ich über mich selbst – ich habe doch viele Jahre in der Ukraine gelebt, bin selbst halber Ukrainer!
Was macht das Fernsehen nur mit uns!«

Die Propaganda, der Einmarsch von maskierten Soldaten ohne Hoheitskennzeichen in ein Nachbarland, die Besetzung des Parlaments, das Inszenieren einer Bedrohungskulisse: All das ist eine Art der Kriegsführung, die so alt und vergessen ist, dass sie schon wieder neu erscheint.

Der Westen hat gezeigt, dass er ihr wenig entgegenzusetzen hat.
Wir leben in einer anderen Gedankenwelt.

Wir kommen mit Kontaktgruppen, wenn Putin Panzer vorfahren lässt.
Wir werben für Verständnis für einen Aggressor.
Wir sind hoffnungslos überfordert.

Schon unter Boris Jelzin hatte eine kleine Clique die Macht und den Reichtum Russlands an sich gerissen und des Machterhalts halber die Demokratie verraten.
Unter Putin hat man die alten Oligarchen zwar aus der Politik gedrängt, aber an ihre Stelle trat eine neue Clique aus KGB-Genossen und alten Kumpeln, die heute den Großteil der russischen Wirtschaft kontrollieren und ihre Pfründe mit Methoden verteidigen, die – ich drücke mich vorsichtig aus – Recht und Gesetz Hohn sprechen.

Zu Jelzins Zeiten wucherte die Bestechlichkeit, und der Staat wurde der Kriminalität nicht Herr.
Unter Putin wurde die Korruption zum Stützpfeiler des Systems, und es ist der Staatsapparat, von dem ein großer Teil der Kriminalität ausgeht.

Entstanden ist ein Mafia-Staat, ein krimineller Steinzeit-Kapitalismus mit KGB-Handschrift.

Nach einer aktuellen Studie ist Russland flächenmäßig das Land mit der größten sozialen Ungerechtigkeit in der Welt; 110 Oli garchen besitzen 35 Prozent des Haushaltsvermögens. Die »Milliardärsdichte« in Russland ist 15-mal höher als im weltweiten Durchschnitt.

Meine Tochter fragte mich, als sie acht Jahre alt war, warum ich Putin kritisiere. Ich erklärte ihr, dass sich der Kreml-Chef in Russland so verhalte wie jemand, der beim Monopoly-Spiel nach eigenem Gutdünken das Geld aus der Kasse verwalte, die Straßen verteile, die Mieten festsetze, die Ereignis-Karten ausgebe und entscheide, wer ins Gefängnis müsse. »Mit so einem würde ich nicht gerne spielen«, sagte meine Tochter.

Für 140 Millionen Russen ist jeder Tag so ein Spiel ohne Spielregeln. Deshalb ärgert mich der oft vorgebrachte Einwand, es gebe doch auch viel Positives im heutigen Russland, und ich solle lieber darüber berichten.

Bei einer Lesung in Dortmund warf mir ein junger Zuhörer vor, ich würde Stalin schwarzmalen: »Auch unter ihm waren doch viele Menschen glücklich!«

Offenbar haben wir uns so in unserem wohlhabenden Rechtsstaat eingerichtet, dass es vielen schwerfällt, zu begreifen, was eine Diktatur ausmacht.

Die Rechtlosigkeit, die Allmacht und die Willkür der Beamten hängen wie ein Damoklesschwert über den Menschen. Um sie abzulenken und ruhig zu halten, setzt Putin auf Propaganda, aggressiven Nationalismus und Kriegstreiberei; Konflikte wie der in der Krim sind das Lebenselixier seines Systems.

Ich hätte viel lieber ein anderes Buch geschrieben.

Etwa über meine wunderbaren Erlebnisse mit den liebenswerten, offenen Menschen in diesem großartigen Land. Aber gerade die einfachen Menschen, die Russland so liebenswert machen, sind es, die am meisten unter bürokratischer Willkür, Rechtlosigkeit und sozialer Ungerechtigkeit zu leiden haben.
Allein ihretwegen wäre es falsch zu schweigen.

Wer in einem Haus ein Feuer entdeckt, muss zuallererst die Bewohner und die Nachbarn warnen und sich auf den Brandherd konzentrieren. Niemand würde ihm vorwerfen, er hätte vor den Alarmrufen von der gelungenen Renovierung und der Schönheit der Zimmer schwärmen sollen oder er wolle mit seinen Warnungen das Haus schlechtreden und verachte die Bewohner.

Ähnlich absurd sind die Vorwürfe gegen Korrespondenten, sie würden die Russen schlechtreden. Kritik an den Regierenden mit Kritik an den Regierten gleichzusetzen – das ist seit eh und je die Taktik autoritärer Regime.

Viele Ereignisse, die in diesem Buch beschrieben werden, liegen einige Jahre zurück, und trotzdem sind sie aktueller denn je. In meinem Ausblick von 2006 habe ich davor gewarnt, dass Putin Krisen und Konflikte als Lebenselixier für sein System benötigt.

Leider haben die Ereignisse in Georgien, in der Ukraine und auf der Krim genau das bestätigt – wie das neue Kapitel »Der Vormarsch – über alle Grenzen« zeigt.
Putin dreht immer schneller an der Eskalationsschraube.

Dies müssen wir erkennen – bevor es zu spät ist.“

Boris Reitschuster

putin2050

Ein Gedanke zu “Lesetipp: Putins Demokratur

  1. Nicole Maares

    Vielen Dank für den Buchtipp – aktueller denn je.
    Nicole

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